Die Chinesische Mauer--Interpretation

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Interpretation

Die Farce Frischs Die chinesische Mauer wird oft als "nihilistisch" bezeichnet. Das Stück wird von dem illusionsbrechenden Ansager--dem Heutigen--vorgestellt und geführt. Er erzählt dem Publikum, wer die Personen im Schauspiel sind und welche Bedeutung die Chinesischen Mauer für die Menschheit hat. Nach seiner theatralischen Einführung wird der Heutige eine der dramatischen Figuren. Er trifft mit Olan zusammen und ihr stummer Sohn, die zuerst auftreten. Der Heutige nutzt ihre Gespräche, um darauf hinzuweisen, dass das die grundlegende Situation des Spiels ist. Er macht auch deutlich, das alles auf der Bühne ein Spiel ist und keine realistische Illusion gesucht wird. Mit der Bühnenumgebung wird jede Anstrengung gemacht, zu versichern, dass "die Bühne eine Bühne bleibt.

Die eigentliche Fabel des Stücks spielt in China des ersten Kaisers Tsi Shi Hwang Ti. In seinem Reich ist der "endgültige Frieden" hergestellt. Nach dem "endgültigen" Sieg über seine Feinde verkündet der Kaiser die "Große Ordnung". Um dieses Himmelreich zu verwirklichen, müsse nun der "letzte Widersacher" des Reichs, der sich Min Ko oder die "Stimme des Volks" nennt, liquidiert werden und eine große Mauer gegen die nordwestlichen Horden gebaut werden. Aber keiner hat je diesen tapfren Mann gesehen. Nur seine Sprüche sind bekannt und weit verbreitet. Nun will der Kaiser ihn töten lassen. Er will ihn aus den entfernsten Ecken des Reiches heraussuchen und verhaften.

Dieser Widersacher kann jedoch nicht identifiziert werden. Da Olans armer Sohn nicht wie andere jubeln konnte, als sie den Kaiser sahen, wurde seine Stummheit sofort als Ming Kos offner Trotz des Kaisers interpretiert; er wird sofort  verhaftet. Da er wirklich kein einziges Wort aufbringen kann, wird sein Schweigen als eine Verspottung des Kaisers und seiner Leute  gesehen. Er wird gefoltert, um zu einem Geständnis gezwungen zu werden. Der Heutige versucht umsonst, die Folterung des Stummen  zu verhindern. In diesem Augenblick sind die Aufständischen da. Der Prinz wird der Anführer der Aufständischen. Der Heutige entlarvt  ihn, dass er eine neue Rolle spielt, und versucht umsonst, damit die alte Frau die Wahrheit spricht, dass ihr Sohn stumm ist. Die Mutter  aber besteht darauf, dass ihr Sohn der wichtige Min Ko sei. Damit zeigt Frisch uns seine tiefe pessimistische Ansicht der Welt als  "Welttheater".

Diese Kernfabel ist eingepflanzt in einen Figurentanz von "Masken", die wichtige Persönlichkeiten der Weltgeschichte und der Literatur  darstellen. Um das historische Ereignis des Bauens der Chinesischen Mauer zu feiern, werden Zeremonien gehalten und Gäste aller  Zeitalter und aller Ecken der Welt eingeladen. Dieses Stück ist typisch für seine universelle gegenwärtige Bedeutung des Auftretens  vieler historischen Personen. Sie wollen ihre Macht in der bisherigen Geschichte rechtfertigen und immer wieder zurückkehren; der  Heutige bittet sie jedoch, wegen der Gefahren des Atomzeitalters nicht wiederzukommen. "Exzellenz, das Atom ist teilbar", ruft er beispielsweise Napoleon zu. "Die Sintflut ist herstellbar... Wir stehen vor der Wahl, ob es eine Menschheit geben soll oder nicht" (S. 16).

Obwohl Frisch viele künstlerische Ähnlichkeiten mit Brecht und den traditionellen chinesischen Dramatikern teilt, unterscheiden sich die  philosophischen Grundlagen seiner theatralischen Technik grundsätzlich von denen des Brechtschen Theaters und des chinesischen  Theaters. Seine philosophische Voraussetzung ist eine pessimistische: die Welt kann nicht durchschaut oder verändert werden und den  Zuschauern kann nicht durch jegliche Warnung oder Belehrung geholfen werden.  Das Ziel von Brechts „epischem” oder „dialektischem” Theater ist die Veränderbarkeit der Welt zu zeigen, und den Zuschauern dabei  zu helfen, sich um diese Veränderbarkeit zu bemühen. Die chinesische theatralische Darstellungsweise hat natürlich keine Absicht, die  Zuschauer im Sinne Brechts zu verwickeln, es glaubt jedoch, dass man den Zuschauern mit einer „positiven” Lösung der Probleme  durch die dramatische Handlung helfen kann.   Frischs philosophische Pessimismus fordert die optimistische Prämisse von Brechts Verfremdungseffekt und der Theatralität des chinesischen Theaters heraus. Das scheinbare Spielerische von Frischs Theater hat keinerlei entfernte Beziehung mit irgendeine  optimistische Ansicht der Welt. Seine antiillusionistische Technik wird absichtlich als ein resignierter Ausdruck seines tiefverwurzelten Pessimismus benutzt.

Dass das Spiel am Ende wieder von vorne anfängt, ist höchst symbolisch:  Die Machthaber wollen dieselbe farcenhafte Geschichte immer weiter wiederholen und Frieden und Ordnung sind aber nur die Fassaden, die sie benutzen, um ihre Farce weiterzuführen. Die intellektuelle Warnung zeigt sich als eine entzweifelte Entscheidung. Für seine mutige Warnung wird der Heutige  ironischerweise von Hwang Ti als seinen "Hofnarren" bezeichnet und ihm wird eine goldene Kette um den Hals als seinen Preis gelegt. Die Literatur und das Theater können diese Machthaber zwar im Zerrspiegel wiedergeben, sie sind aber ohnmächtig, diesen farcenhaften Vorgang aufzuhalten.